„Als fortschrittliches Volk sollten wir nur nach vorne schauen!“ Interview mit Präsident Kassym-Schomart Tokajew

„Als fortschrittliches Volk sollten wir nur nach vorne schauen!“ Interview mit Präsident Kassym-Schomart Tokajew

„Als fortschrittliches Volk sollten wir nur nach vorne schauen!“

Interview mit Präsident Kassym-Schomart Tokajew

Vielen Dank, Kassym-Schomart Kemelewitsch, dass Sie sich ungeachtet Ihres angespannten Zeitplans die Zeit genommen haben, der Zeitung „Egemen Qazaqstan“ ein Interview zu geben. Die kasachische Presse wartet auf Ihre Antworten zu Fragen, die unsere Gesellschaft beunruhigen. Deshalb möchte ich heute offen mit Ihnen über diese Themen sprechen.

 

An welche Ereignisse des vergangenen Jahres erinnern Sie sich?

 

Zunächst möchte ich die Gelegenheit nutzen, allen Landsleuten noch einmal zum Neuen Jahr zu gratulieren!

Das Jahr 2023 war für unser Land ein an bedeutenden Ereignissen reiches Jahr. Wir haben uns dem Abschluss der wichtigsten politischen Reformen genähert. Das Verfassungsgericht hat seine Arbeit aufgenommen. Nach der neuen Gesetzgebung fanden die Wahlen der Abgeordneten des Maschilis (Unterhaus des Zweikammernparlaments – Anm. d. Red.) und der Maslichate (örtliche und regionale gesetzgebende Kammern – Anm. d. Red.) aller Ebenen statt. Zum ersten Mal fanden die Wahlen der Akime (Bürgermeister beziehungsweise Vorsteher – Anm. d. Red.) der Bezirke und der Städte mit Gebietsbedeutung statt. Es gab weitere Wahlen der Bürgermeister der Dörfer und Städte von Distriktbedeutung statt, insgesamt wurden im vergangenen Jahr etwa 700 ländliche Akime gewählt.

Wir haben begonnen, ein faires und wettbewerbsfähiges Wirtschaftssystem aufzubauen. Wir haben uns mit Fragen der Diversifizierung und Entmonopolisierung der Wirtschaft, der

Erneuerung der Infrastruktur, der Unterstützung der Unternehmen und des Anwerbens von Investitionen beschäftigt.

Die schmerzhaften Fragen des Sozialbereichs wurden konsequent gelöst. Im ganzen Land haben wir mit dem Bau von Schulen begonnen, darunter „komfortable Schulen“ (unter komfortablen Schulen werden mit Labors, Werkstätten, Computerklassen, Intellektuellen-Fachräumen, Kantinen, Turnhallen und Sportanlagen ausgestattete inklusive Schulen verstanden, 2023 bis 2025 sollen 401 solcher Schulen gebaut werden – Anm. d. Red.), zudem werden medizinische Einrichtungen in den Dörfern errichtet. Eingeführt wurde das Sozialgesetzbuch, mit dem sozial schwache Kategorien von Bürgern umfassend unterstützt werden. Es wurde eine Sonderzahlung für Arbeitnehmer genehmigt, die unter gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen beschäftigt sind. Aufgrund der Risiken für Leben und Gesundheit wurde eine zusätzliche Zahlung für die Mitarbeiter der Naturschutzdienste eingeführt. Die Gehälter der Ärzte, der Lehrkräfte in Schulen und Berufsschulen (Kolleges) und der Erzieher in Kindergärten wurden erhöht. Es wurde ein Gesetz verabschiedet, das einen bestimmten aus dem Nationalfonds bereitgestellten Beitrag für Kinder regelt. Es wurde eine neue Methode zur Bestimmung des Mindestlohns beschlossen, die die wichtigsten Wirtschaftsindikatoren, darunter die Inflationsrate, berücksichtigt.

Diese ganze Arbeit wird im Jahr 2024 mit weiteren neuen Inhalten fortgeführt. Wir werden gewissenhaft und zielorientiert handeln und uns stetig den anvisierten Zielen nähern. Dieses Jahr ist besonders wichtig, da es das Fundament für den nächsten fünfjährigen Entwicklungszyklus des Landes legt.

 

Welche Erwartungen haben Sie für das kommende Jahr? Welchen Hauptaufgaben steht das Land gegenüber?

 

In der Jahresbotschaft an das Volk Kasachstans vom September 2023 habe ich die Aufgabe formuliert, zu einem neuen Wirtschaftsmodell überzugehen. Als strategisches Ziel habe ich die Verdoppelung des Bruttoinlandsprodukts bis 2029 gesetzt. Demnächst wird es eine erweiterte Regierungssitzung geben, auf der wir die Ergebnisse der sozioökonomischen Entwicklung zusammenfassen und das weitere Vorgehen in dieser Richtung definieren werden.

Eine nützliche Plattform für die Diskussion von weltanschaulichen Fragen, von Fragen der Herausbildung einer fruchtbaren Nation und der Erneuerung des Wertesystems der Gesellschaft waren die Sitzungen des Nationalen Kurultai (Große Versammlung – Anm. d. Red.). Traditionell fanden sie im Sommer statt, aber in diesem Jahr werden wir wahrscheinlich im Frühjahr einen Nationalen Kurultai einberufen.

So werden wir im ersten Quartal die Agenda des Landes für den Wirtschafts-, den sozialpolitischen und den humanitären Bereich erarbeiten.

Wir werden unsere konstruktive und ausgewogene Außenpolitik unter Berücksichtigung der nationalen Interessen des Staates fortsetzen. 2024 wird es in unserem Land eine Reihe von repräsentativen Gipfeln und Foren geben. Kasachstan hat 2024 den Vorsitz in mehreren namhaften internationalen Organisationen inne: der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit, der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, der Konferenz über Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien, der Organisation der Turkstaaten, dem Internationalen Fonds zur Rettung des Aralsees und der Islamischen Organisation für Ernährungssicherheit.

Ein großes Ereignis wird 2024 die Durchführung der Weltnomadenspiele in Kasachstan sein. Die Spiele sind sowohl für die Förderung nationaler Sportarten und eines gesunden Lebensstils als auch für den Ausbau der kulturellen und menschlichen Beziehungen zwischen den brüderlichen Völkern, den Nachfahren der Nomadenzivilisation der Großen Steppe, wichtig.

Mit Blick auf die Stärkung der nationalen Identität wird es nützlich sein, herausragende historische Persönlichkeiten unseres Volkes zu ehren. In diesem Jahr werden der 125. Geburtstag des berühmten Wissenschaftlers Kanysch Satpajew und der 100. Geburtstag der berühmten Helden Sagadat Nurmagambetow und Rachymschan Koschkarbajew gefeiert. Darüber hinaus sind Historikern zufolge im Jahr 2024 800 Jahre seit der eigentlichen Gründung des Ulus Dschutschi vergangen. Im Zusammenhang mit diesem besonderen Datum, das die jahrhundertealten Wurzeln unserer Staatlichkeit belegt, wird eine extensive Forschungsarbeit geleistet. In diesem Jahr wird die Herausgabe der mehrbändigen „Geschichte Kasachstans“ abgeschlossen. Dies ist eine enorme Arbeit, an der mehr als 200 inländische und etwa 60 ausländische Wissenschaftler arbeiten.

Neben den vielen wichtigen Ereignissen wird es noch mehr routinemäßige Alltagsarbeit geben. Doch von den Bemühungen aller Bürger hängt es ab, als was das laufende Jahr in der Geschichte des Landes in Erinnerung bleibt. In meiner Neujahrsansprache habe ich gesagt, dass wir im kommenden Jahr Zeugen eines neuen Aufstiegs unserer Nation sein werden, aber wir alle müssen gute Arbeit leisten, um dieses Ziel zu erreichen.

 

Seit den tragischen Ereignissen im Januar 2022 sind genau zwei Jahre vergangen. Der Januar war eine Scheidelinie, der eine neue Ära in der Geschichte Kasachstans eingeleitet hat. In Ihren Reden und Interviews haben Sie die tragischen Ereignisse bereits bewertet. Jedoch bleiben offene Fragen. Es gibt verschiedene Interpretationen. Wie beurteilen Sie diese Ereignisse heute, zwei Jahre später? Was waren die Hauptgründe und Voraussetzungen?

 

Ich habe lange über diese Fragen nachgedacht und denke auch weiter darüber nach. Meiner Meinung nach führten jahrelange ungelöste soziale und wirtschaftliche Probleme und eine allgemeine Stagnation, die eine Degradierung der Macht und der Gesellschaft zur Folge hatten, zu den tragischen Ereignissen im Januar. Es war, wie man sagt, mit bloßem Auge zu sehen.

Nach meiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 2019 schlugen wir einen Kurs zur Demokratisierung des politischen Systems, zur Liberalisierung des gesellschaftlichen Lebens und zur Entmonopolisierung der Wirtschaft ein. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, zivilgesellschaftliche Aktivisten und Experten wurden aktiv in die Entwicklung und Umsetzung der Reformen eingebunden. Viele Initiativen wurden in verschiedenen Dialogplattformen erarbeitet, darunter auch in den Sitzungen des von mir eigens gegründeten Nationalen Rates des Gesellschaftlichen Vertrauens.

Um ehrlich zu sein: Dieser neue Kurs stieß auf eine harte Ablehnung einflussreicher Personen, die ihn als Bedrohung für die tief verwurzelte Situation im Land und ihren privilegierten Status in den Machtstrukturen empfanden. Ihr verdeckter, oft aber auch offener Widerstand gegenüber den Reformen wuchs allmählich. Um die Transformation umzukehren und die alte Ordnung wiederherzustellen, entschieden sie sich schlussendlich für extreme Maßnahmen.

Diese Gruppe hochrangiger Personen hatte einen großen Einfluss auf das Sicherheitsapparat (gemeint sind im Allgemeinen bewaffnete Kräfte des Innenministeriums, Militärs, Geheimdienste u.a. – Anm. d. Red.) und Kriminelle, daher wurde die Option gewählt, eine gewaltsame Machtübernahme zu organisieren. Den Ermittlungen zufolge haben die Vorbereitungen etwa Mitte 2021 begonnen. Dann traf die Regierung die unüberlegte und ungerechtfertigte Entscheidung, die Preise für Flüssiggas stark zu erhöhen, und im Gebiet Mangystau fingen die von Provokateuren angestifteten Menschen an zu demonstrieren.

In meinem Auftrag richtete die Regierung eine Sonderkommission ein, die in das Gebiet reiste, um sich mit Vertretern der Öffentlichkeit zu treffen und eine Kompromisslösung zu finden. Aber die Proteste nahmen einen extremistischen Charakter an, was die Verschwörer ausnutzten.

Die Untersuchung der Generalstaatsanwaltschaft ergab, dass die Ereignisse im Januar einen „wellenartigen“ Charakter hatten.

Am Anfang gab es Kundgebungen im Gebiet Mangystau, die in anderen Regionen eine Fortsetzung fanden. Ungeachtet aller Bemühungen der Zentralregierung und der Akimate destabilisierte sich die Situation im Land, die Verhandlungen und der Dialog, um Kompromisslösungen zu finden, fanden keine Unterstützung bei den Organisatoren der Unruhen.

In vielen Regionen des Landes kam es zu ersten Zusammenstößen. All dies ging von den Verschwörern aus, die die Situation durch speziell trainierte Menschen auf jede Art und Weise eskalieren wollten. Aber selbst in dieser so schwierigen Situation vermieden die Rechtsschutzbehörden den Einsatz von Gewalt. Das war die zweite Welle.

Die dritte Welle begann, als kriminelle Banden, deren Anführer von den Verschwörern kontrolliert wurden und die Kontakte zu Terroristen hatten, einschließlich solcher, die von auswärts kamen, beteiligt wurden. Besondere Technologien nutzend und unter Einsatz von Provokateuren und Banditen wurden die friedlichen Proteste in Aufruhre verwandelt, begleitet von großer Gewalt, Pogromen, Brandstiftungen und der Zerstörung von Eigentum. Im Chaos griffen bewaffnete Banditen und Terroristen auf ein Kommando hin Gebäude der Machtorgane, der Rechtsschutzbehörden an, stürmten Waffenläden sowie die Arsenale von Sicherheitskräften und Militäreinheiten. Und dabei geht es nicht nur um Almaty, sondern um eine ganze Reihe von Gebietszentren. Ich erinnere daran, dass während der Ereignisse im Januar mehr als 3000 Waffen gestohlen wurden, darunter Maschinengewehre, Maschinenpistolen und sogar Granatwerfer. Darüber hinaus wurden die Verkehrsinfrastruktur und Telekommunikationseinrichtungen angegriffen. Ich wiederhole: Banditen und Terroristen handelten organisiert und in enger Abstimmung miteinander.

Am versuchten Staatsstreich nahmen Extremisten, Kriminelle und religiöse Radikale teil. Das Ziel war, Angst unter den Bürgern zu verbreiten, die staatlichen Institutionen zu schwächen, die verfassungsmäßige Ordnung zu untergraben und schlussendlich die Macht zu ergreifen.

Die Situation war damals äußerst schwierig und angespannt - das Land war kurz davor, im Chaos zu versinken. Um dies zu verhindern, habe ich persönlich alle Maßnahmen stündlich und rund um die Uhr überwacht. Aus dem Innenministerium kamen Informationen über die Vorbereitung verschiedener Angriffe auf Akorda (Amtssitz des Präsidenten Kasachstans – Anm. d. Red.), einschließlich des Einsatzes von Lkws. Mir wurde wiederholt empfohlen, die Residenz zu verlassen, sogar ins Ausland auszureisen, aber ich habe das entschieden abgelehnt und in einer Fernsehansprache erklärt, dass ich unter allen Umständen an meinem Arbeitsplatz bleiben werde. Zwei Wochen lang war ich im Amtssitz Akorda. Die Einsatztreffen fanden sowohl tief in der Nacht als auch am frühen Morgen statt. Damals bestand die wichtigste Aufgabe darin, unseren Staat zu erhalten sowie Rechtsstaatlichkeit und Ordnung im Land wiederherzustellen.

 

Wie richtig war die Entscheidung, russische Soldaten nach Kasachstan einzuladen? Im Nachbarland wird viel über deren rettende Rolle während der Unruhen in Kasachstan gesprochen.

Angesichts des Chaos und der faktischen Anarchie in den Regionen wurde auf der Sitzung des Sicherheitsrats beschlossen, sich an die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) mit der Bitte zu wenden, für die zur Gewährleistung von Stabilität und Sicherheit notwendige Dauer ein Friedenssicherungskontingent in unser Land zu schicken. Ich betone: Der Appell war nicht an Russland gerichtet, sondern an die OVKS, deren Mitglied auch Kasachstan ist.

Damals hielt Armenien den Vorsitz in der Organisation, und in diesem Jahr ging der Vorsitz an Kasachstan über. Das OVKS-Kontingent war in der Tat ein Friedenssicherungskontingent und ein hemmender Faktor gegen das in diesen tragischen Tagen ablaufende extreme Chaos. Danach hat das Kontingent in Absprache mit den Mitgliedsländern der Organisation Kasachstan ohne Vorbedingungen und zudem vorfristig verlassen.

Das OVKS-Friedenssicherungskontingent nahm nicht an der Antiterroroperation teil und feuerte keinen einzigen Schuss ab. Das armenische Kontingent wurde mit dem Schutz des städtischen Abwassersystems und der Brotfabrik Aksai beauftragt, das belarussische Kontingent schützte den Flughafen in Schetygen, das tadschikische und das kirgisische Kontingent die Wärmekraftwerke 1 und 2 in Almaty und das russische Kontingent das Wärmekraftwerk 3 und Telekommunikationsobjekte. Es hatte Drohungen gegeben, Anschläge auf lebensnotwendige Objekte zu begehen, weshalb das Friedenssicherungskontingent genau dorthin geschickt wurde. Doch das Wichtigste ist, dass es unsere eigenen Kräfte freisetzte, die Antiterroroperation durchzuführen.

 

Es stellt sich heraus, dass es ein gescheiterter Putschversuch war. Was sagen Sie dann denen, die behaupten, es sei ein Volksaufstand und fast eine Revolution gewesen?

 

Die ganze Welt erlebte die tragischen Ereignisse, als friedliche Demonstrationen zu Massenunruhen und Pogromen eskalierten. Kommt man mit Maschinengewehren, Pistolen und kalten Waffen zu friedlichen Demonstrationen? Werden bei friedlichen Demonstrationen Soldaten geschlagen, verhöhnt und getötet oder bei Angriffen auf Verwaltungsgebäude als lebendes Schild benutzt? Gibt es nach friedlichen Demonstrationen geplünderte Geschäfte und Banken, verbrannte Autos? Ich spreche schon gar nicht von den Angriffen auf Behördengebäude und Polizeistationen. Der Gesamtschaden dieser Übergriffe belief sich auf etwa drei Milliarden Dollar.

Man sollte keine spekulativen Versionen über Ursachen und Folgen der Januar-Tragödie machen. Ich sage es direkt: Die Argumentation über einen angeblichen Volksaufstand trägt zur Rechtfertigung und zum Reinwaschen krimineller Handlungen bei. Solche unverantwortlichen, in der Tat provokanten Reden führen zur Heroisierung echter Banditen und zur Verankerung einer schädlichen kriminellen Psychologie in der Gesellschaft. Das bedeutet letztlich, zu neuen Unruhen auf Kosten der nationalen Sicherheit und des Wohlergehens der Menschen aufzurufen. Das ist eine sehr ernste Bedrohung. Daher müssen Staat und Gesellschaft in der Verurteilung von Gesetzlosigkeit einig sein – davon bin ich überzeugt.

 

Wie können die Bürger ihre kritische Haltung gegenüber Handlungen der Macht ausdrücken?

Wir haben alle Bedingungen geschaffen, dass die Bürger ihr Nichteinverstandensein mit Handlungen der Macht öffentlich Ausdruck geben können. Sie können offen über bestehende Probleme sprechen. Im Einklang mit dem Konzept des „zuhörenden Staates“ fordere ich von den staatlichen Stellen, die öffentliche Meinung zu berücksichtigen. Wir haben ein demokratisches Gesetz über friedliche Versammlungen. Kürzlich wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Einreichung und Prüfung von Petitionen regelt.

Man muss ganz klar verstehen: Friedliche Proteste sind zulässig, aber Massenaufruhre sind inakzeptabel und werden hart unterdrückt. Im Land muss das Gesetz herrschen – das ist meine grundsätzliche Haltung. Schauen Sie, selbst in den westlichen Ländern, den Zitadellen der Demokratie, sind sie nicht besonders nachsichtig gegenüber denjenigen, die Straßenunruhen organisieren und Regierungsgebäude angreifen.

Die Polizei hat die Organisatoren der Januar-Unruhen identifiziert – all jene, die zum Widerstand gegen die gesetzlichen Anordnungen der Behörden aufgerufen, Waffen geliefert und verteilt, die Atmosphäre der Aggression verstärkt und die Massen bei Pogromen, Brandstiftungen und Gewalttaten geführt haben.

Zur gleichen Zeit wurden einfache und oft zufällige Teilnehmer der Massenaufruhre von den Banditen getrennt. Ich habe entschieden, Bürger, die unter den Einfluss von Provokateuren geraten sind, zu amnestieren. Amnestiert wurden 1095 Personen von 1205 zuvor Verurteilten. Aber die Organisatoren der Unruhen und Personen, die für Terroranschläge, Hochverrat, den Versuch einer gewaltsamen Machtübernahme und andere schwere Verbrechen verurteilt wurden, werden ihre Strafe vollständig absitzen.

 

 

Ich weiß nicht, wie angenehm oder unangenehm die nächste Frage für Sie ist, doch muss ich sie stellen. Nach Ihrem Amtsantritt als Präsident im Jahr 2019 wurde im Land darüber gesprochen, dass wir ein System der Doppelherrschaft entwickelt haben. Der eine verglich unser politisches Modell mit dem des Iran, ein anderer mit dem in Singapur. Und in der Tat schien es so, dass es zwei Machtzentren im Land gab. War dem tatsächlich so?

 

Da Sie eine so scharfe Frage stellen, will ich sehr offen sein. Der Präsident legt in Übereinstimmung mit der Verfassung die Hauptrichtungen der Innen- und Außenpolitik des Landes fest, ernennt und entlässt die höchsten Beamten des Staates und das Oberkommando der Streitkräfte. Das Staatsoberhaupt ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte.

Es gab tatsächlich Versuche, das Modell einer Doppelherrschaft durchzusetzen, wobei sich diese Versuche in ihrer Zielorientierung und ihrer Organisation unterschieden. In der damaligen politischen Situation des „Machttransits“ haben politische Manipulatoren ein paralleles Machtzentrum gebildet. In unserem Land handelten der Präsident und Oberbefehlshaber sowie der Vorsitzende des Sicherheitsrats, in Person des früheren Präsidenten. Dies musste letztlich zu einer Machtkollision führen.

Und ich will hinzufügen: Diese Situation wurde zu einer der Voraussetzungen für die Januar-Krise. Denn die Verschwörer versuchten, das erdachte Modell der Doppelherrschaft oder des „Tandems“ zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Sie erinnern sich wahrscheinlich an die Aussagen einiger Beamter, darunter der ehemalige Justizminister, dass Elbasy (Vater der Nation – Anm. d. Red.) dem Status nach über dem Präsidenten stehe. Einige Beamte wechselten von einem Büro in das andere. Sie haben sich verspielt und verloren am Ende. Später habe ich Nursultan Nasarbajew persönlich gesagt, dass die politischen Spiele, vor allem seiner engsten Mitstreiter, das Land beinahe zerrissen hätten.

Ich denke, dass es überhaupt keinen „älteren und jüngeren“ Präsidenten geben darf. „Wenn du gehst – dann geh wirklich!" Dies ist eine wichtige Lektion für die zukünftige Generation von Führungskräften, die sich vor solchen Dingen hüten und immer nur an die Interessen des Staates und das Wohlergehen der Gesellschaft denken muss.

Zum großen Bedauern offenbarten die Leiter der wichtigsten Sicherheitsbehörden in den entscheidenden Momenten der innenpolitischen Krise ihre Unprofessionalität und sogar Verrat.

Der Januar hat gezeigt, dass es notwendig ist, ein nachhaltiges und effektives System staatlicher Institutionen aufzubauen, das in der Übereinstimmung mit der Verfassung funktioniert. Wir, das ganze Volk, haben diese Krise überwunden, haben überlebt und sind stärker geworden. Wir haben eine noch größere Katastrophe verhindert und die Situation im Land nur dank des Zusammenhalts unserer Bürger und der entschlossenen Handlungen der gesamten Machtvertikale stabilisiert. Später, bereits während der Untersuchung, gestanden einige Verschwörer ein, dass sie ein solches Niveau der Konsolidierung des Volkes und des politischen Willens der Macht nicht erwartet hatten.

 

Nach dem Januar-Ereignissen 2022 haben Sie mit tiefgreifenden politischen Reformen begonnen, was sogar im Westen anerkannt wurde. Kann man sagen, dass der Punkt der Unumkehrbarkeit überschritten ist, eine kritische Linie, die uns von der jüngsten Vergangenheit trennt? Gibt es heute Garantien für die Unumkehrbarkeit des Wandels?

 

Wie gesagt, die politischen Reformen haben 2019 begonnen. Der Nationale Rat des Gesellschaftlichen Vertrauens wurde gegründet, der wichtige Gesetzesinitiativen erarbeitet und umgesetzt hat. Wesentliche Änderungen wurden an den Gesetzen über die Wahlen, über politische Parteien und das Parlament vorgenommen. Im Land wurde zum ersten Mal offen über die Diktatur des Oligopols gesprochen.

Diese Neuerungen stellten eine Bedrohung für diejenigen dar, die sich unter den Bedingungen des politischen und wirtschaftlichen Monopols wohl fühlten. Deshalb unternahmen sie einen erfolglosen Versuch, alles umzukehren.

Nach Januar 2022 gab es Befürchtungen, dass die Macht, „die Schrauben wieder anziehen“ und beginnen würde, das Regime zu konservieren. Wir haben jedoch das Gegenteil getan, indem wir einen komplizierteren, aber richtigen Weg eingeschlagen haben.

Im Jahr 2022 hat sich der Prozess der politischen Modernisierung natürlich beschleunigt. Und eines der Hauptanliegen der Reformen war die Schaffung eines gerechteren und ausgewogeneren politischen Systems. Außerdem war es wichtig, Bedingungen zu schaffen, um die Unumkehrbarkeit politischer Reformen zu gewährleisten und sie zu einem dauerhaften Faktor des gesellschaftlichen Lebens zu machen. Dafür wurden im Rahmen der Verfassungsreform mehrere Sicherungen eingebaut.

Erstens haben wir das Verfassungsgericht wiederhergestellt, das im Grundsatz das höchste Organ der Verfassungskontrolle ist und die Oberhoheit der Verfassung gewährleistet. Es mag dem einen oder anderen so erscheinen, dass man nur das Namensschild des früheren Verfassungsrates ausgetauscht hat, aber dem ist nicht so. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind endgültig, selbst der Präsident kann dessen Entscheidungen, einschließlich Entscheidungen über die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger, nicht revidieren.

Jede Änderung und Ergänzung der Verfassung kann nur aufgrund eines entsprechenden Beschlusses des Verfassungsgerichts in einem republikanischen Referendum zur Abstimmung gestellt oder zur Überprüfung dem Parlament vorgelegt werden.

Und ich erinnere daran, dass von den elf Richtern des Verfassungsgerichts sechs, also die Mehrheit, von den Kammern des Parlaments berufen werden. Zwar wird der Vorsitzende vom Präsidenten berufen, doch bedarf es dazu der Zustimmung des Senats (Oberhaus des Parlaments – Anm. d. Red.).

Zweitens werden in der Verfassung selbst prinzipielle Positionen eindeutig bestätigt. Artikel 91 der Verfassung besagt beispielsweise, dass die Unabhängigkeit des Staates, die Einheit und die territoriale Integrität der Republik, ihre Regierungsform, die grundlegenden Grundsätze der Tätigkeit der Republik und, dies hebe ich hervor, die Bestimmung über eine einmalige siebenjährige Amtszeit des Präsidenten unveränderlich sind.

Drittens sind die Befugnisse des Maschilis, das nach dem neuen Wahlmodell nach Parteilisten und Direktwahlkreisen gebildet wurde, durch die Reformen erheblich ausgeweitet worden.

Kurz gesagt, eine Rückkehr zum alten System ist nicht möglich. Heute kann man mit Überzeugung konstatieren, dass die politischen Reformen in Kasachstan nicht nur systemisch, sondern, was von kritischer Bedeutung ist, unumkehrbar sind, weil die politische Mentalität des Volkes eine radikale Transformation erfahren hat. Rechtskompetenz und Bürgerbeteiligung sind zu Hauptgaranten demokratischer Veränderungen geworden. Das Volk, die Menschen werden keinen Rückfall zulassen, und ich bin überzeugt, dass sie die Veränderungen fest verteidigen werden.

 

Nach wie vor behaupten einige Kritiker der Macht, darunter im Westen, dass es in unserem Land immer noch politische Gefangene gibt. Ist dem so?

 

Die Hauptindikatoren politischer Verfolgung sind Zensur, Sondergesetze und Straforgane. Nichts von all dem gibt es im heutigen Kasachstan. In unserer Gesetzgebung gibt es keinen Erlass, kein Gesetz, kein anderes normatives Dokument, nach dem die Bürger für ihre politischen Ansichten verfolgt werden können.

Im Gegenteil, die Reformen haben das System zum Schutz der Menschenrechte gestärkt. Es wurden Gesetzesänderungen verabschiedet, die die Unabhängigkeit der Gerichte stärken. Die Fallkategorien für Geschworenengerichte wurden erweitert. Das Institut des Menschenrechtsbeauftragten, der einen verfassungsmäßigen Status erhalten hat, funktioniert. Die Konsistenz und die Tiefe der Reformen werden auch dadurch belegt, dass ich im vergangenen Dezember bereits das zweite Dekret über Menschenrechte unterzeichnet habe.

Die Hauptaufgabe der Macht ist die strikte Gewährleistung von Recht und Ordnung. Daher ist jede Gesetzesverletzung strafbar. Doch die politischen Ansichten und ideologischen Vorlieben der Menschen haben mit Gesetz und Rechtsordnung nichts zu tun.

Einzelne Personen verletzen trotz Warnungen der Staatsanwaltschaft mit seltsamer Beharrlichkeit Gesetze und versuchen offenbar damit, eine allgemeine öffentliche Bekanntheit zu erlangen. Mit anderen Worten, sie stellen sich über das Gesetz.

Über welche politischen Verfolgungen kann man in einem Land sprechen, in dem viele unabhängige Medien tätig sind und es keine politische Zensur gibt?

 

Auch die Zahl friedlicher Kundgebungen ist seit Verabschiedung des neuen Versammlungsgesetzes, nach dem über eine geplante Versammlung lediglich informiert werden muss, um ein Vielfaches gestiegen.

In meinen Reden habe ich wiederholt erklärt, dass alle Probleme zivilisiert und konstruktiv gelöst werden müssen – nicht durch Schreie und Provokationen auf öffentlichen Plätzen, sondern innerhalb eigens geschaffener Dialogplattformen und -mechanismen und vor allem innerhalb der Parlamentsmauern.

Heute spiegelt das Parlament die breite politische Palette und die Ansichten aller wichtigen Segmente unserer Gesellschaft wider. Das Institut der parlamentarischen Opposition ist gesetzlich verankert.

Ich erinnere daran, dass nach den Ergebnissen der letzten Wahl sechs Parteien in das Maschilis eingezogen sind, von denen drei erstmals Abgeordnetenmandate bekommen haben. Darüber hinaus ist eine dieser Parlamentsparteien im Grundsatz eine Oppositionspartei.

Viele ausländische Politiker und Fachleute, darunter aus dem Westen, äußern ihre Unterstützung für unsere demokratischen Reformen, wobei sie deren Vorbildcharakter hervorheben. Tatsächlich sind wir in unserem geopolitischen Umfeld das einzige Land, das eine derart große demokratische Transformation durchgeführt und große Fortschritte beim Schutz der Menschenrechte erzielt hat.

 

In den sozialen Netzwerken „geht“ die Nachricht um, dass Sie ein Referendum über die Verfassung abhalten und im Jahr 2026 erneut an der Präsidentschaftswahl teilnehmen wollen. Stimmt das?

 

Das ist eine Falschinformation. Ich bin überzeugt, dass eine eigenmächtige Änderung an der Verfassung, insbesondere in einer so grundlegenden Frage, nicht mehr möglich ist. Die Verfassungsreform wurde nicht umgesetzt, um willkürliche Änderungen am Grundgesetz vorzunehmen.

Die Bestimmung über die einmalige Amtszeit des Präsidenten ist in der Verfassung unveränderbar. Diese Norm ist ebenso unerschütterlich wie die Normen über die Unabhängigkeit, die Einheit, die territoriale Integrität und die Regierungsform unseres Staates.

Da wir dieses Thema berührt haben, möchte ich die Gelegenheit nutzen und einige Details preisgeben. Die Idee einer einmaligen Amtszeit von sieben Jahren habe ich bereits vor 15 Jahren in geschlossenen Diskussionen zum Ausdruck gebracht. Damals wurde dieser Vorschlag nicht unterstützt. Nach meiner Wahl in das Präsidentenamt habe ich alle Für und Wider abgewogen, habe viel darüber nachgedacht, wie man diese Idee in die Praxis umsetzen kann.

Im Jahr 2022 wurden mehrere wichtige Verfassungsänderungen umgesetzt, die darauf abzielten, die superpräsidialen Befugnisse aufzuheben. Gerade damals habe ich die Idee einer einmaligen siebenjährigen Amtszeit vorgeschlagen. Diese Initiative hat nationale Unterstützung erhalten. Damit ist alles gesagt.

 

Sprechen wir über die Wirtschaft. In der 2023-er Jahresbotschaft haben Sie einen neuen Wirtschaftskurs für ein „Gerechtes Kasachstan“ angekündigt und das Ziel gesetzt, den Umfang der Volkswirtschaft bis 2029 auf 450 Milliarden Dollar zu verdoppeln. Doch wird nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank das Wirtschaftswachstum in Kasachstan 2023/2024 nicht mehr als drei bis vier Prozent betragen. Wie realistisch ist es bei einer solchen Dynamik, das gesetzte Ziel zu erreichen?

 

Es ist ein durchaus erreichbares Ziel. Analysten des Internationalen Währungsfonds schätzen, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in laufenden Preisen in Kasachstan 2023 mehr als 259 Milliarden Dollar erreichen wird, was einer Steigerung von 15 Prozent gegenüber 2022 entspricht. Dies ist das höchste nominale Wachstum in Zentralasien.

Eine positive Dynamik zeigt sich auch beim Pro-Kopf-BIP, die Prognose für 2023 lag bei fast 13000 Dollar, das jährliche Wachstum wird auf 1600 Dollar geschätzt. Laut der Prognose des IWF wird das Pro-Kopf-BIP bis zum Jahr 2028 um etwa ein Drittel auf 16800 Dollar steigen.

Ich möchte jedoch betonen, dass makroökonomische Indikatoren für mich in ihrer Bedeutung nicht ausschlaggebend sind, die Hauptsache ist der reale Wohlstand der Bürger.

Die günstigen Prognosen werden unter der Voraussetzung Realität, dass die Regierung neue Ansätze für die Steuerung der Wirtschaft nutzt. Hier sehe ich zwei grundlegende Richtungen.

Die erste ist die Bewältigung einer Reihe punktgenauer Aufgaben, die die Entwicklung des Landes befördern können. Dazu gehört die Umsetzung großer Industrieprojekte. In der September-Botschaft 2023 wurde die Regierung beauftragt, eine Liste möglicher Großprojekte zu erstellen und einen Infrastrukturentwicklungsplan zu erarbeiten. Diese Projekte werden ausgearbeitet und mit Großunternehmen, institutionellen Investoren und der Expertengemeinschaft beraten.

Es ist auch notwendig, die wichtige Aufgabe des Heranziehens von Investitionen zu lösen, darunter durch Privatisierung und Rückgabe von Vermögenswerten. Große Investitionen können die Wirtschaft „in Fahrt bringen“ und neue Wachstumspunkte bilden. Durch meinen Erlass wurde kürzlich ein Investitionsstab gebildet, der mit breiten Befugnissen zur Verbesserung des Investitionsklimas und zur qualitativen Umsetzung von Investitionsprojekten ausgestattet ist.

Die zweite Richtung umfasst Maßnahmen zur Umsetzung systemischer Reformen, mit denen neue „Spielregeln“ für die gesamte Wirtschaft durchgesetzt werden.

Die Regierung erarbeitet in meinem Auftrag ein neues Steuergesetzbuch, mit dem die Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen neugestaltet werden sollen. Bei der Verbesserung des Steuersystems ist es sehr wichtig, sich vom ausschließlich fiskalischen Ansatz abzuwenden. Wir brauchen eine Balance zwischen der Schaffung günstiger Bedingungen für Investoren und der Bewahrung des notwendigen Niveaus der staatlichen Einnahmen.

Von großer Bedeutung ist das neue Haushaltsgesetzbuch. Wir müssen unsere Einstellung zu Haushaltsmitteln grundlegend verändern, indem wir bei der Mittelverwendung Rationalität, Sparsamkeit und Relevanz in den Vordergrund stellen.

Die neuen Gesetze über das staatliche Beschaffungswesen und Öffentlich-Private Partnerschaften sollen hierbei künftig eine wichtige Rolle spielen. Diese Dokumente werden die Transparenz der staatlichen Beschaffung gewährleisten und eine finanzielle Grundlage für die Entwicklung der Wirtschaft schaffen.

Besondere Aufmerksamkeit gilt der Verbesserung der Effizienz des quasistaatlichen Sektors. Die Maßnahmen zur Modernisierung dieses Sektors wurden bereits festgelegt, jetzt geht es um ihre praktische Umsetzung.

Bei der Beantwortung Ihrer Frage möchte ich auch darauf verweisen, dass die globale Wirtschaftskonjunktur ohne Frage Auswirkung auf unser Land hat. Aber jede Schwierigkeit eröffnet neue Möglichkeiten. Die Regierung muss über einen detailliert durchgerechneten Handlungsplan verfügen, in dem alle möglichen Entwicklungsvarianten berücksichtigt sind. Es ist von Wichtigkeit, dass alle Maßnahmen zur Stimulierung des Wirtschaftswachstums von Strukturreformen begleitet werden, die auf den Ausbau des Unternehmertums und des Wettbewerbs, den Schutz des Privateigentums und die Gewährleistung von Gerechtigkeit abzielen. Mit diesem Ansatz werden wir alle gesteckten Ziele erreichen, einschließlich der Verdoppelung des volkswirtschaftlichen Volumens innerhalb der geplanten Frist.

 

Unsere Zeitung erreichen oft Anrufe und Briefe von Bürgern, die ihre Verbraucherkredite nicht bezahlen können. In diesem Zusammenhang möchte ich fragen, welche Maßnahmen ergriffen werden, um dieses Problem zu lösen?

 

Die Kreditwürdigkeit der Bürger macht mir ernsthafte Sorgen, denn dieses Problem beeinflusst direkt das soziale Wohlbefinden der Menschen und die Stabilität des Finanzsystems. Eine meiner ersten Entscheidungen als Präsident war das Dekret von 2019, mit dem die Schuldenlast von Bürgern in einer schwierigen Lebenssituation reduziert wurde. Damals wurden die ungesicherten Darlehen von 500000 Personen als einmalige Maßnahme abgeschrieben. Im Jahr 2023 ist dann das Gesetz über die Privatinsolvenz in Kraft getreten. Dies waren wichtige Schritte, mit denen die Härte des Problems verringert wurde. In meiner Jahresbotschaft vom letzten Jahr habe ich die Regierung angewiesen, neue systemische Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation, die in erster Linie auf das geringe finanzielle Sachverständnis der Bürger zurückzuführen ist, grundlegend zu korrigieren. Auf der anderen Seite ist es offensichtlich, dass die Regulierung der Verbraucherkredite und der Tätigkeit von Inkassounternehmen verschärft werden muss.

In dieser Richtung wurde bereits etwas getan. So wurden die Kapitalanforderungen an Banken und Mikrofinanzinstitute, die Verbraucherkredite vergeben, in den letzten Jahren um das Fünffache erhöht. Es ist jetzt verboten, dass ein Bürger einen neuen Kredit erhält, wenn Kredite überfällig sind. Es ist auch verboten, bei 90 Tagen Säumnis einen Entgeltaufschlag auf alle Kredite zu erheben. Die Inkassobüros werden ständig überprüft.

Um die Rechte der Kreditnehmer zu schützen, wurden Änderungen am Gesetz über Kredite ausgearbeitet, die die Anforderungen an Mikrofinanzinstitute, Inkassounternehmen und Banken weiter verschärfen werden. Es wird vorgeschlagen, den Forderungsverkauf an Geldeintreiber zu beschränken. Das Verfahren zur Begleichung gekaufter Schulden wird in der Verantwortung von Inkassounternehmen liegen. Die Befugnisse des Ombudsmannes für Banken werden ausgeweitet. Der Gesetzentwurf wird bereits im Unterhaus des Parlaments geprüft. Ich bin bereit, diese Initiativen zu unterstützen.

 

Preissteigerungen, Tariferhöhungen, Beschäftigungsprobleme und die allgemeine Situation in den Gebieten beunruhigen heute viele unserer Landsleute. Ist die gegenwärtige Regierung, die mit vielen operativen Fragen beschäftigt ist, in der Lage, strategische Probleme zu lösen? Wie beurteilen Sie die Effizienz der Regierungsarbeit insgesamt?

 

Die Regierungen aller Länder stehen vor operativen und strategischen Herausforderungen. Kasachstan ist hier keine Ausnahme. Die wichtigste Frage ist dabei eine optimale Ressourcenverteilung und eine effiziente Planung.

Die derzeitige Regierung wurde erst im Frühjahr letzten Jahres gebildet. Die Verfassungsreform und die Parlamentswahlen haben das Mandat des Parlaments und der Regierung wieder „auf Null“ gesetzt. Gemäß der Verfassung hatte die Regierung ihre Befugnisse vor dem neu gewählten Maschilis niedergelegt. Die Kandidatur des neuen Regierungschefs hat die Partei „Amanat“ vorgeschlagen, die die Mehrheit der Sitze im Maschilis innehat. Natürlich geschah dies nach zuvorigen Konsultationen mit dem Präsidenten. Der Wirtschaftsblock des Wahlkampfprogramms basierte auf der Grundlage des Programms der amtierenden Regierung.

Die Befugnisse der Regierung wurden erheblich erweitert. Nach ihrer Reorganisation im September konzentriert sich die Präsidialadministration auf die strategischen Richtungen der sozioökonomischen Entwicklung des Landes und kümmert sich nicht mehr um die detaillierte Beaufsichtigung der Regierung, einzelner Ministerien oder Abteilungen. Jetzt fungiert die Präsidialadministration als politisches Hauptquartier, das sich nicht in die Arbeit der Exekutive im Modus der „manuellen Verwaltung“ einmischt. Vorher duplizierte Funktionen wurden gänzlich an die Regierung überantwortet. Das Vorrecht, Branchenentscheidungen zu treffen, wurde ebenfalls auf die Ebene der Regierung und der zuständigen Organe übertragen. Die Gebiete verfügen über mehr Selbstständigkeit mit Blick auf ihre Haushalte.

Kurzum: Die Regierung verfügt über genügend Werkzeuge. Auf ihrer Seite ist eine durchdachte Handlungsstrategie und natürlich der Wille, die gestellten Aufgaben erfolgreich zu lösen, gefordert. Die Regierung hatte darum gebeten, ihre Eigenständigkeit und zusätzliche Befugnisse zu gewähren – sie hat sie bekommen. Aber wir müssen verstehen, dass auch die Anforderungen an sie jetzt höher sind.

 

Meiner Meinung nach erfüllt die Regierung die Aufgaben zur Sicherstellung des reibungslosen Funktionierens des Brennstoff- und Energiekomplexes sowie der Kommunalwirtschaft des Landes nur mit großen Schwierigkeiten. Im Extremfall muss man sich mit der Beseitigung von Havarien befassen und die Versorgung mit Wärme, Energie und Wasser in Siedlungen in ganz Kasachstan unterstützen. Wie konnte es zu dieser Situation kommen?

 

Der beklagenswerte Zustand der Wärmekraftwerke und der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft ist das Ergebnis jahrelanger Untätigkeit. Alle verstehen, dass die aktuellen Probleme in diesen Bereichen nicht von heute auf morgen entstanden sind, sondern sich über Jahre aufgestaut haben. Die Abnutzung der Heizsysteme und anderer Ausrüstung erreicht in den Gebieten 80 Prozent. Zugleich entsprachen die Investitionen in die Kommunalwirtschaft in all den Jahren nicht den Bedarfen.

Negative Auswirkungen auf die Situation haben auch bestimmte Informations-„Netzwerker“, die absichtlich Vorfälle im laufenden Betrieb in den Elektroenergieobjekten verhärten, indem sie die Situation mit der Wärmeversorgung als „Tragödie“ bezeichnen.

Die tiefgreifende Modernisierung der technischen Infrastruktur im ganzen Land ist eine sehr umfangreiche und schwierige Aufgabe, aber sie wird allmählich gelöst.

In der Frühjahrs- und Sommerperiode haben die Regierung und die Akime Maßnahmen ergriffen, um eine qualitativ gute Vorbereitung auf die Heizperiode zu gewährleisten. Es wurden Arbeiten an problematischen Objekten, deren Zustand kritisch war, durchgeführt.

Die Mindestaufgabe heute ist, keine schweren Havarien und keine Unterbrechung der Wärmeversorgung in den Haushalten zuzulassen. Die maximale Aufgabe ist, neue Kapazitäten zu erschließen, die Netze systematisch zu erneuern und den gesamten Versorgungsbereich zu modernisieren. Unter den aktuellen Bedingungen können die Heizungsnetze den Belastungen mehr oder weniger gut standhalten, aber ohne weitere nachdrückliche Maßnahmen der Regierung und der Akime kann es nicht gehen.

 

Die angespannte Situation mit der Wärmeversorgung lässt über den Zustand der Energiesicherheit des Landes nachdenken. In Ihrer Jahresbotschaft von 2023 haben Sie erklärt, dass über die Frage des Baus eines Kernkraftwerks in unserem Land eine Volksabstimmung stattfinden soll. Trotz der Tatsache, dass Kernkraft als „grüne“ Energie gilt, gibt es in der Gesellschaft keine eindeutige Meinung zum Bau eines AKWs. Zudem haben die AKW-Pläne auch eine gewisse geopolitische Dimension. Welche Position vertreten Sie?

 

Saubere Atomenergie ist für Kasachstan sehr wichtig. Es ist eine grundsätzliche Frage mit Blick auf die Zukunft unserer Wirtschaft. Wir liegen auf Platz 1 in der Welt bei der Uranförderung, wir haben unsere eigene Produktion von Atombrennstoffkomponenten. Deshalb schenke ich der Frage des AKW-Baus in unserem Land besondere Aufmerksamkeit. Schlussendlich sollte die Frage der Energiesicherheit auf Basis der tatsächlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten sowie natürlich auf der Grundlage wissenschaftlicher Forschung und nicht aus geopolitischen Erwägungen angegangen werden.

Unter den Bürgern gibt es diejenigen, die dem Bau von Atomkraftwerken kritisch gegenüberstehen. Dies ist verständlich, viele erinnern sich gut an die tragischen Folgen der Versuche auf dem Atomtestgelände Semipalatinsk. Es gibt auch andere schwierige Punkte, die berücksichtigt werden müssen, zum Beispiel die Kosten des Projekts, die ökologischen Aspekte.

Da ich die Bedeutung der Frage verstehe, habe ich vorgeschlagen, über den Bau des Atomkraftwerks in einem landesweiten Referendum abzustimmen. Dass Entscheidungen zu den für das Volk wichtigsten Problemen durch Referenden getroffen werden, habe ich bereits in meinem Wahlprogramm erklärt, mit dem ich 2019 zur Wahl angetreten bin. Es ist die Umsetzung des Konzepts des „zuhörenden Staates“ und der Grundsätze eines Gerechten Kasachstans in der Praxis.

Vor uns liegt eine breite öffentliche Diskussion. Die Bürger sollten alle Argumente der Experten auf das „Für“ und „Wider“ prüfen und diskutieren, damit sie bei ihrer freien Willensbekundung eine ausgewogene, überdachte Entscheidung treffen können. Es wird eine Entscheidung des Volkes sein.

 

Das vergangene Jahr war außenpolitisch sehr ereignisreich. Die Position Kasachstans wurde auf vielen Gipfeltreffen und Foren positiv aufgenommen. Sie haben sich mit vielen Weltführern getroffen, das regionale Format „C5 +“ war sehr gefragt. Dies hat zu einem großen Teil auch mit Ihrer Glaubwürdigkeit in der Weltdiplomatie zu tun. Welche bedeutenden außenpolitischen Ereignisse sind in der kommenden Zeit zu erwarten?

 

Durch unsere ausgewogene und pragmatische Außenpolitik schützt Kasachstan die nationalen Interessen und löst die vor uns liegenden strategischen Herausforderungen. Unsere Prioritäten sind unverändert – die Gewährleistung der Souveränität und territorialen Integrität des Landes, der Schutz der Rechte und Interessen der Bürger Kasachstans sowie die Schaffung von günstigen äußeren Bedingungen für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. In meiner zehnjährigen Tätigkeit als Außenminister habe ich unmittelbar an der Entwicklung dieser Prioritäten teilgenommen.

Unter den derzeit schwierigen geopolitischen Bedingungen ist es für Kasachstan wichtig, eine für beide Seiten vorteilhafte und pragmatische Zusammenarbeit mit allen unseren ausländischen Partnern und vor allem unseren Nachbarn zu entwickeln.

Sie haben die Relevanz des „C5 +“-Formats richtig erkannt, denn Zentralasien ist eine sich dynamisch entwickelnde Region mit einer eigenen Sicht auf die geopolitischen Realitäten, mit breiten Möglichkeiten auf den Feldern Handel, Investitionen, Wirtschaft und Innovationen. Gerade deshalb wächst in der Welt das Interesse an Zentralasien erheblich, steigt die Nachfrage nach der Dialogplattform „C5 +“.

Ohne den regelmäßigen und vertrauensvollen Dialog auf höchster Ebene wäre der aktive Ausbau der Beziehungen der Länder der Region zu einflussreichen externen Akteuren nicht möglich. Diesbezügliche Fortschritte wurden in den letzten Jahren erreicht, und die jährlichen Beratungstreffen der Staats- und Regierungschefs Zentralasiens waren produktiv. Übrigens wird Kasachstan in diesem Jahr ein weiteres Treffen in diesem Format ausrichten.

Wie ich bereits sagte, steht das Jahr 2024 im Zeichen des kasachischen Vorsitzes in mehreren einflussreichen regionalen und internationalen Organisationen und Verbänden.

Ein wichtiges Ereignis wird das Internationale Astana-Forum im Juni dieses Jahres sein, an dem Staats- und Regierungschefs mehrerer Staaten und Vertreter weltweit agierender Unternehmen teilnehmen. Auf dieser Plattform werden traditionell globale Probleme wie Klimawandel, Nahrungsmittelknappheit und Energiesicherheit diskutiert.

Von großer Bedeutung ist die Vereinbarung mit Frankreich über die gemeinsame Organisation des Internationalen Forums „One Water Summit“ im Jahre 2024 am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Der Gipfel soll zur globalen Klimaagenda beitragen.

 

Für März 2024 sind Präsidentschaftswahlen in Russland angesetzt. Wie wird sich dieses Ereignis auf die globale und regionale Agenda auswirken?

 

In Bezug auf Wahlen ist dieses Jahr für viele Staaten ein Meilenstein. Neben Russland werden Wahlkämpfe in den USA, in Aserbaidschan, Großbritannien, Indien und anderen Ländern anstehen, es werden Wahlen zum Europäischen Parlament stattfinden. Natürlich werden wir diese Wahlprozesse genau beobachten.

Die Präsidentschaftswahl in Russland ist aufgrund des hohen Niveaus der Beziehungen zwischen Astana und Moskau für uns ohne Frage von besonderem Interesse. Jeder weiß, dass Russland der wichtigste strategische Partner und Verbündete Kasachstans ist. In den zurückliegenden 30 Jahren haben wir eine beeindruckende Architektur zwischenstaatlicher Beziehungen aufgebaut, die mehr als 300 Verträge und Abkommen umfasst. In fast allen Bereichen sind Mechanismen der bilateralen Zusammenarbeit etabliert.

Der politische Dialog auf höchster Ebene entwickelt sich intensiv. Wir arbeiten in multilateralen Strukturen sowie in Fragen der regionalen Stabilität und der internationalen Sicherheit zusammen.

Eines der wichtigsten Ereignisse in der umfangreichen bilateralen Agenda des letzten Jahres war der offizielle Besuch von Wladimir Putin in Kasachstan. Während der Verhandlungen haben wir den unverbrüchlich freundschaftlichen Charakter der Beziehungen und die strategische Partnerschaft zwischen unseren Staaten bestätigt.

Russland ist einer der wichtigsten Handelspartner Kasachstans. Das Handelsvolumen zwischen unseren Ländern lag in den ersten zehn Monaten 2023 bei 21,4 Milliarden Dollar. Und das ist kein Wunder, denn wir teilen die längste ununterbrochene Landgrenze der Welt.

Traditionell wird dem Ausbau der kulturellen und menschlichen Beziehungen sowie der Kontakte in der Wissenschaft und Bildung besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Übrigens wird in diesem Jahr der 225. Geburtstag des großen russischen Dichters Alexander Puschkin gefeiert. Dieses Jubiläum ist nicht nur für Russland, sondern auch für Kasachstan von Bedeutung. Denn Puschkin ist, wie für uns der große Abai, eines der Hauptsymbole der Freundschaft und des kulturellen Zusammenwirkens unserer Völker.

Man muss verstehen, dass die Russische Föderation eine außerordentlich wichtige Rolle in der Weltpolitik spielt und den Status eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen hat. Der russische Präsident Wladimir Putin ist ein Staatsführer, der durch seine Worte und Handlungen im Grunde die globale Agenda beeinflusst. Die Meinung Russlands wird auf der ganzen Welt berücksichtigt, ohne die Beteiligung dieses Staates wird kein globales Problem gelöst, das ist eine Tatsache.

Daher wird die Präsidentschaftswahl in einem Land wie Russland von großer internationaler Bedeutung sein und die Aufmerksamkeit der Mehrheit der Länder der Welt haben.

 

Die Beziehungen zu China nehmen einen besonderen Platz in der Außenpolitik Kasachstans ein. Seit einigen Jahren gibt es in der kasachischen Gesellschaft positive Veränderungen in der Wahrnehmung des östlichen Nachbarn. Welche Perspektiven gibt es für die weitere Gestaltung der Beziehungen mit der Volksrepublik China?

 

Heute entwickeln sich die Beziehungen zwischen Kasachstan und China lebhaft im Geiste der Freundschaft, der guten Nachbarschaft und der ewigen strategischen Partnerschaft.

Zusammen mit Präsident Xi Jinping haben wir eine neue „goldene dreißigjährige Periode?“ der Zusammenarbeit zwischen Kasachstan und China ausgerufen. Die beiden Besuche, die ich letztes Jahr nach China unternahm, sind ein deutlicher Beleg dafür.

Während der Verhandlungen mit dem chinesischen Führer in Xi'an und Peking haben wir wichtige Abkommen vereinbart und konkrete Wege für deren Umsetzung skizziert. Diese persönlichen Kontakte spiegeln das hohe Niveau der Beziehungen zwischen Astana und Peking vollumfänglich wider. Die kasachisch-chinesischen Beziehungen können mit Sicherheit als vorbildlich bezeichnet werden.

Der bilaterale Außenhandel zeigt ein beispielloses Wachstum – in den ersten zehn Monaten des Jahres 2023 erreichte er einen Rekordwert von 24,3 Milliarden Dollar. Wir arbeiten aktiv daran, die Liste unserer Exportprodukte zu erweitern und die Lieferungen nach China zu erhöhen.

Darüber hinaus ist China traditionell einer der größten Investoren in die kasachische Wirtschaft. In unser Land flossen insgesamt bereits 24 Milliarden Dollar chinesischer Investitionen.

Die gemeinsame Grenze zu China, die günstige geografische Lage Kasachstans zwischen Ost und West – all dies eröffnet unserem Land große Perspektiven für den Transit chinesischer Waren in verschiedene Richtungen. Während meiner Teilnahme am 3. hochrangig besetzten Forum „One Belt. One Road“ in Peking wurden so wichtige Übereinkünfte wie das Abkommen über die gemeinsame Entwicklung der Transkaspischen Internationalen Transportroute und das Memorandum zum gemeinsamen Bau der Eisenbahnstrecke Ajagos-Tatschen unterzeichnet. Ich bin überzeugt, dass sie der Entwicklung des Transport- und Logistiksektors unseres Landes einen zusätzlichen Impuls verleihen. Kasachstan unterstützt verlässlich das chinesische Großprojekt „One Belt. One Road“, wovon meine Rede auf dem Forum in Peking im Oktober 2023 erneut zeugte.

Das Inkrafttreten des visafreien Verkehrs zwischen Kasachstan und China ist außerordentlich wichtig – die Kasachstaner haben das Recht, China visafrei zu besuchen. Ich hoffe, dass viele unserer Mitbürger die sich ergebende Gelegenheit nutzen werden.

In Bezug auf China sollten wir nicht von Ängsten leiten lassen, die von außen eingebracht werden oder auf den Vorstellungen vergangener Tage beruhen. China ist heute ein hoch entwickelter Staat, auch im Bereich der Hochtechnologien. Das erkennt die ganze Welt an. Daher ist es für Kasachstan äußerst wichtig, mit unserem östlichen Nachbarn zusammenzuarbeiten und alle Vorteile der freundschaftlichen Beziehungen und des gegenseitigen Vertrauens effektiv zu nutzen.

 

Bei der jüngsten Preisverleihung des „Parys“ (höchste staatliche Auszeichnung für soziales Engagement von Unternehmen – Anm. d. Red.) und „Altyn Sapa“ (Prämie des Präsidenten für Steigerung der Produkt-, Arbeits- und Dienstleistungsqualität – Anm. d. Red.) haben Sie Ihre Landsleute aufgefordert, nach vorne zu schauen und sich an langfristigen Zielen zu orientieren. Insbesondere haben Sie betont, dass die Gesellschaft nicht ins Archaische abrutschen, sondern den Weg des Fortschritts gehen sollte. Was meinten Sie damit? Worauf sollte sich unsere Gesellschaft Ihrer Meinung nach konzentrieren?

 

Neben den aktuellen Aufgaben ist es für uns sehr wichtig, uns auf langfristige Ziele zu konzentrieren. Wir legen oft großen Wert auf kleinere Fragen, verschwenden unsere Energie auf Randthemen oder noch schlimmer – wir lassen uns auf die falsche Agenda eines anderen führen. Wir dürfen uns davon nicht ablenken lassen und sollten unsere strategischen nationalen Ziele nicht aus den Augen verlieren.

Umso mehr dürfen wir nicht in die archaische Welt abrutschen und uns in sinnlosen Diskussionen über vergangene Größe oder Kränkungen verlieren. Natürlich ist die Geschichte ein wichtiger Bestandteil unserer nationalen Identität, deshalb führt der Staat gerade jetzt eine systematische Arbeit in dieser Richtung durch. Herausgegeben werden viel thematische Bücher, geschaffen werden fachwissenschaftliche Institutionen, modernisiert werden bestehende Institutionen. Eine große Forschungsarbeit zur Rehabilitation der Opfer der Stalinschen Repressionen wurde kürzlich abgeschlossen. Kurz gesagt, die Erforschung unserer jahrhundertealten Geschichte und die Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit wird immer eine unserer Prioritäten sein.

Aber viel wichtiger ist nicht, wer wir waren, sondern wer wir sind und vor allem wer wir sein werden. Wir müssen geeint sein nicht nur in unserem Verständnis, welchen schwierigen Weg wir gegangen sind, sondern auch darin, was wir anstreben. Wir müssen nicht von Erinnerungen an die Vergangenheit leben, sondern von Bestrebungen für die Zukunft, um die Größe unserer Nation zu beweisen.

Wir müssen uns von kultureller Nachahmung, falschem Patriotismus und um sich greifender Aufschneiderei befreien. Dabei dürfen wir die Augen nicht vor den vorhandenen Mängeln verschließen, sondern müssen daran arbeiten, die Mängel zu beseitigen. Das, wovon ich spreche, ist für die Zukunft Kasachstans in dieser stets turbulenten Welt von entscheidender Bedeutung.

Für den neuen Aufstieg unserer Nation müssen wir ständig alles Fortschrittliche in uns aufnehmen und alles, was das Land zurückhält, hinter uns zurücklassen. In unserer Gesellschaft muss der Kult der Arbeit und der produktiven Kreativität verankert werden, muss die Kraft des Wissens und des kreativen Denkens triumphieren, muss das Prinzip des Pragmatismus und der realistischen Einstellung zum Leben herrschen. Ich sollte ehrlich sagen, dass nicht alle Vertreter der Intelligenz, die sich als „Gewissen der Nation“ darstellen, diese edle Mission würdig erfüllen. Statt echter geistiger Führung hören wir das Jammern über Nebensächlichkeiten, das übliche Eigenlob und Klagen wegen Finanzierungsfragen gegenüber der Macht. Damit lassen sie die Entwicklung der nationalen Ideologie in die falsche Richtung laufen.

Als fortschrittliche Nation sollten wir nur nach vorne schauen, sollten wir über das nachdenken, was uns eint, nicht über das, was uns trennt. Im Vordergrund müssen die nationalen Werte stehen. Ich habe mehrfach über diese Werte gesprochen, aber ich werde es noch einmal wiederholen. Einheit, Solidarität, Arbeitsliebe, Kult des Wissens, Professionalität, gegenseitige Unterstützung, Unternehmergeist, Initiative, Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Sparsamkeit – dies sind die Werte und Qualitäten echter Bürger und Patrioten. Sie werden unsere Nation stärker machen und ermöglichen, erfolgreich zu sein. Indem wir diese Ideale kultivieren, können wir unsere Nation in einer neuen Qualität bilden.

 

Ich muss ein weiteres Thema berühren, das die ganze Gesellschaft beunruhigt. Fälle von Gewalt und Grausamkeit sind in letzter Zeit häufiger geworden. Jeden Tag gibt es Nachrichten über misshandelte Frauen und Kinder, Vergewaltigungen sind nicht selten. Welche Maßnahmen ergreift der Staat, um solche Verbrechen zu eliminieren?

 

Auf meine Anweisung hin wurden systemische Maßnahmen ergriffen, die auf die Prävention und Verhinderung solcher Verbrechen zielen. Wir haben die Ausbildung weiblicher Ermittler für Gewaltverbrechen gegen Frauen und Kinder eingeführt, Planstellen wurden geschaffen und die Arbeit der Abteilungen der Strafverfolgungsbehörden zum Schutz von Frauen vor Gewalt wurden verstärkt.

Im vergangenen Jahr sind wir noch einen Schritt weiter gegangen und wir haben das Vorgehen bei häuslichen Straftaten überarbeitet. Seit dem 1. Juli geht die Polizei bei der Erfassung von Straftaten nicht mehr von einem deklaratorischen, sondern von einem ermittlungstechnischen Ansatz aus. Das heißt, die Polizeibeamten benötigen für die Einleitung eines Verfahrens nicht mehr die Anzeige des Opfers häuslicher Gewalt. Zudem wurde die verwaltungs- und strafrechtliche Haftung für häusliche Gewalt erheblich verschärft. Um den Druck auf die Opfer zu verringern, wurde die Möglichkeit einer wiederholten Versöhnung der Parteien in solchen Fällen abgeschafft.

Darüber hinaus bereitet eine Abgeordnetengruppe im Rahmen der Umsetzung meiner 2023-er Jahresbotschaft einen Gesetzentwurf vor, der neue effektive Methoden der Bekämpfung häuslicher Gewalt vorsieht.

 

Nach der aufsehenerregenden Ermordung einer Frau durch ihren Ehemann im vergangenen November begann man im Internet Unterschriften für eine Petition zur Verschärfung der Strafen für häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder zu sammeln. Später kamen jedoch Fragen zur Legitimität der Petition auf, da das Petitionsgesetz erst im April 2024 in Kraft treten wird. Viele befürchten, dass das Thema nicht über den toten Punkt hinauskommen wird. Offen gesagt: Sind Sie „für“ oder „gegen“ härtere Strafen für häusliche Gewalt?

 

Ich bin für die Stärkung des Prinzips „Recht und Ordnung“, deshalb möchte ich klar und deutlich sagen, dass ich für eine Verschärfung der Strafen für häusliche Gewalt bin. Unabhängig davon, ob diese Petition den gesetzlichen Anforderungen entspricht, wird die in ihr zum Ausdruck gebrachte Meinung der Bürger berücksichtigt werden – daran kann kein Zweifel bestehen.

Gleichzeitig müssen wir klar begreifen, dass Gesetzesänderungen nur dann wirksam sein können, wenn es in der Gesellschaft eine vollständige Ablehnung, eine „Nulltoleranz“, gegenüber jeder Form von Aggression und Gewalt gibt. Sie werden mir zustimmen, dass es seltsam anmutet, wenn Menschen einerseits eine härtere Bestrafung von Gewalt fordern, andererseits aber die „Romantik“ der kriminellen Welt bewundern und die Helden von Filmen, die sich über das Gesetz hinwegsetzen, oder sogar echte Kriminelle vergöttern. Gemeinsam müssen wir uns gegen alle Versuche wehren, destruktives, asoziales Verhalten zu rechtfertigen, und gegen den Rechtsnihilismus kämpfen. Gesetzlosigkeit und Grausamkeit müssen entschieden und einmütig bekämpft werden. Als Gesellschaft müssen wir jede Verletzung von Normen und Regeln, jede Respektlosigkeit gegenüber universellen Werten ablehnen.

 

Die Menschen, mit denen Sie zusammenarbeiten, charakterisieren Sie als fordernden Vorgesetzten. Welche Prinzipien leiten Sie in der Personalpolitik, wie bauen Sie die Beziehungen zu Mitarbeitern auf?

 

Für mich ist es grundsätzlich wichtig, dass Staatsbeamte nicht nur Profis sind, die ihre unmittelbaren Aufgaben einwandfrei erfüllen, sondern dass sie Initiative ergreifen und durch ihr persönliches Beispiel den Nutzen und die Unumkehrbarkeit von Veränderungen unter Beweis stellen. Sie müssen die entsprechende Ausrüstung an Wissen und Kompetenzen mitbringen, über herausragende menschliche Eigenschaften verfügen, konzentriert und diszipliniert sein.

Mir ist weniger die persönliche Hingabe der Mitarbeiter wichtig, als vielmehr ihr Engagement für die Idee, das Gerechte Kasachstan aufzubauen. Die wichtigste Voraussetzung für Beamte und Führungskräfte aller Ebenen ist ihre Fähigkeit, ihren Finger am Puls der gesellschaftlichen Stimmungen und Ereignisse zu halten, den Wünschen der Menschen zuzuhören und sie zu verstehen, rechtzeitig und effektiv auf sie zu reagieren und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sie müssen dem Grundsatz folgen, „nicht der Mensch ist für den Staat da, sondern der Staat für den Menschen“.

 

Eine abschließende Frage zu den Kadern. Dank der Reformen haben viele junge Menschen die Chance bekommen, sich im Staatsdienst zu verwirklichen. Die Jugend ist heute auf allen Ebenen vertreten, einschließlich des Parlaments, der Maslichate, der Ministerien. Sie unterstützen zweifellos die Vertreter der neuen Generation. Doch wird die Meinung vertreten, dass es jungen Führungskräften an Erfahrung und Tiefe der Sichtweise mangelt. Was denken Sie diesbezüglich?

 

Ich glaube an unsere Jugend. Daher wurden umfassende Maßnahmen ergriffen, die für die jungen Menschen den Weg in die Exekutive und die Legislative ebnen. Die Jugendpersonalreserve des Präsidenten wurde gebildet. Junge Fachleute, die mehrere Auswahlstufen durchlaufen haben, erhalten die Möglichkeit, Führungspositionen im öffentlichen Dienst zu besetzen.

Im Rahmen politischer Reformen wurde eine Quote für Frauen, Jugendliche und Menschen mit besonderen Bedürfnissen auf Wahlparteilisten und bei der Verteilung von Abgeordnetenmandaten eingeführt. Viele junge Patrioten konnten als Abgeordnete ins Maschilis und in die Maslichate einziehen, die Stimme der jungen Generationen in den Vertretungsorganen wurde lauter. Diese Schritte haben der Erneuerung der Machtorgane Auftrieb gegeben.

Die Welt verändert sich heute sehr schnell, nicht von Jahr zu Jahr, sondern praktisch von Tag zu Tag. Es entstehen neue Technologien, Berufe und Branchen, Arbeits- und Managementansätze werden überarbeitet. Vor diesem Hintergrund wächst die Rolle junger Menschen, die in der Lage sind, neue Fähigkeiten zu erlernen und moderne Kenntnisse effektiv anzuwenden. Die junge Generation ist progressiv im Denken, ist auf die Zukunft ausgerichtet und auf eine fortschrittliche Entwicklung. Daher kann ich nicht zustimmen, dass es den jungen Menschen an der Tiefe der Sichtweise mangelt. Aber in den Machtstrukturen muss es eine Mischung aus Erfahrung und neuen Ideen geben, daher sind hier Experimente fehl am Platz. Ich weiß, dass einige skrupellose „Experten“ beharrlich die These vertreten, dass Präsident Tokajew das System konserviert hat, nichts Neues und Gutes passiert ist und die alten Kader an ihrem Platz geblieben sind. Dies ist eine große Hinterlist, die das ultimative Ziel hat, die Staatlichkeit zu destabilisieren und zu untergraben. Eile kann zu irreparablen Folgen führen.

Ja, junge Führungskräfte mögen nicht genug Erfahrung haben, Ehrgeiz und ein Mangel an kritischem Selbstwertgefühl verhindern manchmal, dass sie sich in einem angemessenen Maß selbst verwirklichen. Dennoch geben wir der neuen Generation von Fachleuten die Chance, sich zu beweisen. Diese Politik wird fortgesetzt werden.

 

Die Memoiren des Ersten Präsidenten haben in der Gesellschaft heftige Reaktionen ausgelöst. Sie haben dieses Buch wahrscheinlich auch gelesen. Was sind Ihre Eindrücke als direkter Augenzeuge vieler Entscheidungen und Ereignisse, die im Buch erwähnt werden. Und werden Sie selbst Memoiren schreiben?

 

Meiner Meinung nach ist dieses Buch als Chronik des Aufbaus der Unabhängigkeit von Interesse. Wie ein Spötter sagte, sind Memoiren wichtig, denn auch wenn sie nur zu 50 Prozent die Wahrheit enthalten, reicht dies bereits, um das Ausmaß historischer Ereignisse darzustellen.

Nursultan Nasarbajew ist eine historische Persönlichkeit und ein Zeitzeuge mehrerer Epochen. Er begann seine Karriere als Komsomol-Aktivist unter Chruschtschow und trat nach mehr als sechzig Jahren zurück. Sein Beitrag zur Entwicklung des unabhängigen Kasachstans ist offensichtlich, er verdient eine gerechte historische Bewertung.

Normalerweise lese ich mit Interesse Memoiren, Publizistik, politische Essays. Was das Schreiben eigener Memoiren angeht, bin ich dazu jetzt nicht in der Lage.

 

Es heißt, dass Sie den Akimen der Gebiete verboten haben, Sie mit Blumen am Flugzeug zu empfangen und vor allem Feste, pompöse Konzerte und Shows zu organisieren. Ist dem wirklich so?

 

Während meiner ersten Reisen als Präsident versuchten die Akime vor Ort, üppige Zeremonien und prächtige Feste zu veranstalten, große Plakatwände aufzustellen. Diese Praxis wurde eingestellt. Ich besuche die Gebiete mit konkreten Arbeitszielen und mit einem offiziellen Programm. Ich bin sicher, dass diese Praxis vor Ort Wurzeln schlagen wird und wir feierliche Zeremonien unter Beteiligung der Öffentlichkeit und unter Verausgabung großer finanzieller Mittel vollständig aufgeben.

 

Kassym-Schomart Tokajew, ich danke Ihnen für das inhaltsreiche Gespräch. Ich bin mir sicher, dass wir ein ereignisreiches Jahr erwarten werden. Abschließend möchte ich noch eine persönliche Frage stellen: Wie haben Sie den Beginn des neuen Jahres 2024 gefeiert?

 

Das Neujahr ist natürlich ein wichtiger Einschnitt, der mit der Änderung der Kalenderdaten verbunden ist. Es ist üblich geworden, dass wir in diesen Tagen resümieren und Pläne für die Zukunft machen. Gleichzeitig hat das Neujahr für mich keine sakrale Bedeutung. Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass wir unser eigenes Neujahr haben – Nauryz, das den Beginn des neuen Lebenszyklus der Natur verkörpert.

Nauryz symbolisiert die Erneuerung, und wir sollten das Fest auch auf neue Weise feiern: inhaltsreich, kreativ, mit der Einführung neuer unverwechselbarer Elemente. Ich bin mir sicher, dass dies zur Konsolidierung der Gesellschaft und zur Stärkung unserer nationalen Identität beitragen wird.

Abschließend möchte ich allen Landsleuten Glück und Wohlstand wünschen! Das Wichtigste ist, dass in unserem Land Einvernehmen und Ruhe vorherrschen! Möge unsere Heimat Kasachstan gedeihen!